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07.04.2004 14:44

Leipziger Ethnologe zur Memorialkultur Armeniens

Volker Schulte Stabsstelle Universitätskommunikation / Medienredaktion
Universität Leipzig

    An jedem 24. April - an diesem Tag anno 1915 leitete die Verhaftung, Deportation und Ermordung armenischer Intellektueller in Konstantinopel den Völkermord ein - treffen sich Armenier in der ganzen Welt zum Gedenken.

    Als die Republik Armenien am 21. September 1991 ihre Unabhängigkeit von der Sowjetunion proklamiert, blickt sie auf eine Geschichte, die über Jahrhunderte hinweg von Okkupation und Fremdherrschaft geprägt wurde. Ereignisse wie die verlorene Schlacht gegen die Perser (451), der Fall der Hauptstadt Ani (1064) sowie der Völkermord (1915/16) sind für heutige Armenier lebendiges Gedächtnis. ''Vergangenheit'' ist für sie anders als in der westeuropäischen Kultursphäre nicht abgeschlossen, sondern eng mit aktuellen Begebenheiten verbunden.

    Auf einem Hügel über Jerewan steht das Denkmal, das an den armenischen Völkermord 1915/16 erinnert: Ein Obelisk sticht in den Himmel, einige Meter entfernt liegt eine tiefe Mulde, die von zwölf halbrunden Basaltbögen eingefasst wird. Im Inneren lodert ein Feuer - es ist die ewige Flamme. Sie symbolisiert das Grab von mehr als 1,5 Millionen armenischen Frauen, Kindern und Männern, die zwischen April 1915 und Winter 1915/16 aus dem Ostteil des Osmanischen Reiches vertrieben und ermordet wurden. Gleichzeitig wird an dieser Gedächtnisstätte der Kämpfer um die Exklave Berg-Karabach gedacht, die Opfer des Konfliktes mit Aserbaidschan zwischen 1988 und 1994 wurden. ''Symbolisch bedeutet dies'', so Jürgen Gispert, ''dass man die Ereignisse von Karabach ihrem Gehalt nach dem Völkermord von 1915/16 ähnlich sieht, wenn man sie nicht sogar einander gleichsetzt'', so Jürgen Gispert von der Universität Leipzig. Am Lehrstuhl von Professor Bernhard Streck arbeitet der Ethnologe an seiner Promotion ''Memorialkultur in Armenien'', seit fast zehn Jahren befasst er sich mit der Kultur des Erinnerns und Gedenkens in Armenien.
    Das kleine Gebirgsland im südlichen Kaukasus grenzt im Norden an Georgien, im Osten an Aserbaidschan, im Süden an Iran und die aserbaidschanische Exklave Nachitschewan und im Westen an die Türkei. Auf einer Fläche von 29.800 Quadratkilometern - das entspricht der Größe Belgiens - leben heute nach offiziellen Angaben circa 3,5 Millionen Menschen. Weitere fünf Millionen leben außerhalb ihrer Heimat: in Georgien und Aserbaidschan als Nachkommen der südkaukasischen Siedler; in der Türkei, Syrien und im Libanon, im Iran, in Russland, der Ukraine und Zentralasien als Nachfahren von Armeniern, die in den einstigen Großreichen als Minderheit lebten; und schließlich die große Diaspora in Europa und Amerika, die unter anderem aus den Verfolgungen und Vertreibungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts hervor gegangen ist.
    In der armenischen Diaspora hat Jürgen Gispert den Anknüpfungspunkt für seine Studien gefunden: Als er Anfang der 1990er Jahre einen Freund in London besuchte, traf er auf eine große armenische Gemeinde. In dieser sind auch Familien zu Hause, die auf einer doppelten Flucht aus dem historischen Westarmenien über das griechisch-türkisch geteilte Zypern in die britische Zuflucht gelangt waren. Darunter auch ein Geistlicher, der - tätig in der British Library - dem engagierten jungen Deutschen die Welt der ältesten christlichen Kulturnation öffnete. In der Folgezeit zwischen 1993 und 2001/02 war Jürgen Gispert über sechs Jahre hinweg in der Republik Armenien - als Stipendiat des DAAD und als Lehrer an verschiedenen Hochschulen. ''Für mich war und ist es interessant, gerade eine solche Kultur zu erkunden, die sowohl einen Grenzbereich zwischen Orient und Okzident markiert als auch eine eigenständige Identität ausbildet.'' Als strategische Drehscheibe der Handels- und Invasionswege zwischen Europa und Asien wurde das Land immer wieder zum Zankapfel und zum Schlachtfeld der Großreiche.

    Ein Erlebnis, das Gispert in Ani, der Hauptstadt des Mittelalters, hatte, illustriert das Verhältnis der Armenier zu ihrer Geschichte: ''Mit einer Gruppe Studenten habe ich einmal Ani besucht. Mitten durch die Stadt verläuft heute die Grenze zwischen der Türkei und Armenien. Dort heben die Menschen Erde auf und nehmen sie mit nach Hause. - Die Menschen verhalten sich zu ihrer Vergangenheit als 'verlorener Gegenwart'.''
    Zwar kam es im Laufe der Geschichte zu einigen Reichsgründungen, aber in der Regel war das Land geteilt: Zwischen Rom und Sassaniden, Byzanz und Arabern, Osmanen und Persern und schließlich zwischen Osmanen und Russen bzw. Türken und Sowjets. So beruht die kulturelle Identität der Armenier - 301 erhob das Königreich Armenien als erstes Land überhaupt das Christentum zur Staatsreligion; seit 406 existiert ein Alphabet mit 39 Buchstaben - auf der Sprache, dem eigenen Alphabet und der Kirche. An dieser Stelle hakt der Leipziger Ethnologe ein: ''Allein an Kirchengemäuern lässt sich die armenische Religion nicht festmachen.'' Seiner Ansicht nach bedarf es anderer manifester Erinnerungen, um armenische Identität quasi ''fest zu halten''. Neben der Sprache und dem Alphabet gehören für Gispert dazu auch jene Denkmäler, die prägenden Erlebnissen aus der Historie gelten. Für seine Untersuchungen zur ''Memorialkultur Armeniens'' hat er zuvörderst das Genozid-Denkmal gewählt. An jedem 24. April - an diesem Tag anno 1915 leitete die Verhaftung, Deportation und Ermordung armenischer Intellektueller in Konstantinopel den Völkermord ein - treffen sich Armenier in der ganzen Welt zum Gedenken. Auch auf dem Hügel Tsitsernakabert über Jerewan. Der Ethnologe sieht ein Ritual: Die Menschen betreten das symbolisierte Grabmal mit dem ewigen Feuer - ''die Abtrennung vom Alltag erfolgt''; sie gedenken der Opfer des Genozids - ''die Vereinigung mit den Toten''; und sie verlassen auf der anderen Seite die Halle - ''die Wiederkehr in die Gesellschaft''.
    In dieses Ritual sind seit einigen Jahren die Gefallenen von Berg-Karabach eingebettet. Neben die Bedeutung von Tod und Untergang, die das Genozid-Denkmal ausstrahlt, ist nun mit den Grabstätten der Karabach-Kämpfer gleichberechtigt die Bedeutung von Sieg und Überlebenswille getreten - Karabach steht für Armenien in einer mythischen Linie mit dem Genozid. ''Das drückt die Herangehensweise an die eigene Vergangenheit aus: Die Vergangenheit ist nicht weg gegangen, sie wird vielmehr in die heutige Zeit hinein getragen.'' Im Vergleich zur westeuropäischen Kultursphäre stellt Jürgen Gispert einen markanten Unterschied fest: ''Während wir unsere Vergangenheit als zur Gänze abgeschlossen betrachten und in diesem Sinne für die Gegenwart handhabbar machen, werden in der armenischen Kultur Fixpunkte der Vergangenheit heutigen, als wichtig erachteten Ereignissen gegenüber gestellt und miteinander abgeglichen.''

    Daniela Weber


    Weitere Informationen:
    Jürgen Gispert
    Telefon: 0341 3038706
    E-Mail: juergengispert@web.de


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Geschichte / Archäologie, Politik, Recht
    überregional
    Forschungsprojekte, Studium und Lehre
    Deutsch


     

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