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10.05.2004 11:10

Plünderungen waren an der Tagesordnung

Gabriele Rutzen Kommunikation und Marketing
Universität zu Köln

    Plünderungen waren an der Tagesordnung
    Die Ernährungslage in Köln nach dem Zweiten Weltkrieg

    Plünderungen waren alltäglich. Vorher unbescholtene Bürger stahlen oder handelten auf dem Schwarzmarkt. Wenn es um die Nahrung ging, war sich jeder selbst der Nächste. Die psychischen und physischen Auswirkungen monatelangen Hungers sind in unserer heutigen Überflussgesellschaft kaum vorstellbar. Die Erforschung der Alltagsgeschichte der deutschen Nachkriegszeit wurde lange vernachlässigt. Claudia Naß nahm sich nun dieses Themas an und untersuchte am Seminar für Geschichte und Philosophie der Uni-versität zu Köln die Ernährungssituation in Köln nach dem Zweiten Weltkrieg bis 1948, wobei sie sich vor allem alltagsgeschichtlichen Fragen zuwendete.

    "Wenn man Hunger hat, drehen sich die Gedanken nur ums Essen. Man denkt nur an sich, man will satt werden. Das ganze Leben dreht sich ums Essen und die Frage: Wie werde ich satt?", erinnert sich ein 77 Jahre alter Kölner an die Nachkriegszeit in seiner Stadt.

    In Köln erwiesen sich die Versorgungsschwierigkeiten als besonders verheerend, da der Kölner Raum dicht bevölkert, stark industrialisiert war und nur auf eine geringe Agrarpro-duktion zurückgreifen konnte. Die Stadt war stark zerstört, und zugesagte Lieferungen im Rahmen des interzonalen Ausgleichs blieben aus. Zerstörte Eisenbahnstrecken, Straßen und Brücken erschwerten zudem das Heranschaffen von Lebensmitteln aus ländlichen Gebieten in die Stadt. Auch die Rückwanderungswelle verschlechterte die Versorgung der Kölner Bevölkerung zunehmend. Im Sommer 1945 trafen wöchentlich ca. 6000 eva-kuierte oder geflohene Bewohner Kölns wieder ein. Der von der Militärregierung darauf-hin verhängte Zuzugstopp erwies sich als wenig effektiv.

    Der kontinuierliche Bevölkerungsanstieg konnte auch durch die Anzahl der ausgegebe-nen Lebensmittelkarten dokumentiert werden. Ab Oktober 1945 war daher die Vergabe von Lebensmittelkarten an die Vorlage eines gültigen Arbeitspasses gekoppelt, wobei nicht arbeitsfähige Personen eine Ersatzbescheinigung erhielten. Solche Maßnahmen zeigten sich jedoch als wenig erfolgreich. Anfang 1946 besaßen schätzungsweise 20 000 bis 25 000 Menschen einen ungültigen oder gefälschten Arbeitspass.

    Da die verschiedenen Bevölkerungsgruppen unterschiedlich hart von den Auswirkungen der Ernährungskrise betroffen waren, wurden die Bedarfsgruppen in Nicht-, Teil- und Selbstversorger, nach Lebensalter sowie nach gesundheitlicher oder beruflicher Belas-tung aufgegliedert. Landwirte und Teilselbstversorger erhielten keine Zuteilungen, da sie in der Lage waren, ihren Kalorienbedarf aus eigener Produktion zu decken. Normal-verbraucher, wie z. B. Hausfrauen oder Intellektuelle, waren Personen, die ausschließlich auf die Zuteilung von Lebensmitteln durch Lebensmittelkarten angewiesen waren. Die Rationen lagen mit 950 Kalorien pro Tag jedoch weit unter dem vom Völkerbund errech-neten täglichen Kalorienbedarf des Menschen von 2400 Kalorien. Da meist aber nicht alle Waren geliefert werden konnten, beliefen sich die Werte sogar oft auf unter 900 kcal, so dass die Zahl der Anträge auf Zuteilung von Zulagen rapide anstieg. Untergewichtige, werdende und stillende Mütter, Blutspender, ambulante Kranke, ehemalige Fremdarbei-ter und politisch Verfolgte erhielten Sonderzulagen. Die Zahl der Zulageberechtigten stieg von 17 000 im Juni 1945 auf 115 000 im März 1947.

    Mit dem Hunger breiteten sich auch die Krankheiten zunehmend aus - Tuberkulose, eitri-ge Hautentzündungen aufgrund der Mangelernährung sowie Knochenbrüche infolge starker Gewichtsabnahme. Ende 1947 erhielten mehr als 15 Prozent der Gesamtbevöl-kerung Krankenzulagen.

    Im Jahr 1946 spitzte sich die Ernährungslage derartig zu, dass die Lebensmittelrationen massiv gekürzt wurden. Die Brotration pro Zuteilungsperiode wurde für Normalverbrau-cher von 10 auf 5 Kilogramm reduziert. Die Zuteilung für Kinder wurde um 2 Kilo, für Ju-gendliche sogar um 3 Kilo gekürzt. Die Lebensmittel, die bereit standen, waren meist von schlechter Qualität und einseitiger Zusammensetzung. Die Kölner vegetierten bei ca. 800 kcal vor sich hin. Ursprünglich hatten die Nazis 800 kcal als hinlänglich bezeichnet, um Millionen Antifaschisten, Fremdarbeiter und Kriegsgefangene planmäßig dem langsamen Hungertod entgegen zu treiben.

    Die Menschen griffen zur Selbsthilfe, verabredeten sich zu nächtlichen Plünderungen, unternahmen Hamsterfahrten aufs Land oder handelten auf den Schwarzmärkten Kölns in der Severinstraße, an der Kalker Post, am Gereonswall, in der Berliner Straße oder in der Elsaßstraße, um sich vor dem Verhungern zu retten. Neid und Missgunst der Kölner Einwohner schlugen der Landbevölkerung entgegen, die keinen Mangel litt. Durch die niedrig gehaltenen Preise sank die Bereitschaft der Landwirte immer weiter, die Waren abzuliefern. Oftmals verkauften sie ihre Erzeugnisse auch gegen Wertgegenstände auf dem Schwarzmarkt. Der Kölner Erzbischof Kardinal Frings, der bereits die Fastengebote der vorösterlichen Zeit aufgehoben hatte, appellierte im Juni 1946 an die Landwirte, ihren Ablieferungspflichten nachzukommen, "um die Menschen in der Stadt vor dem Hunger-tod zu bewahren".

    Nur durch Spenden aus dem Ausland konnte eine größere Hungerkatastrophe in Köln verhindert werden. Bereits im März 1946 lebte die Kölner Bevölkerung seit Monaten zu 85 Prozent von ausländischen Einfuhren. Amerikanische Wohlfahrtsverbände organi-sierten umfangreiche Hilfsmaßnahmen und stellten Lebensmittelpakete zusammen. Da der Gesundheitszustand insbesondere der Kleinkinder sehr schlecht war, wurden einzel-ne ausländische Spenden von der Kölner Stadtverwaltung zu Kleinkindspeisungen koor-diniert. Die Alliierten waren überzeugt, dass ohne einen ausreichenden Ernährungsstan-dard die Durchsetzung von Demokratie und die wirtschaftliche Stabilität in Europa nicht möglich war. Die Lebensmittelimporte dienten also auch dazu, den Aufbau eines demo-kratischen Staates nicht zu gefährden.
    Verantwortlich: Dr. Wolfgang Mathias

    Für Rückfragen stehen Professor Dr. Michael Klöcker unter der Telefonnummer 0221/470-4967 und 0221/9522123 und unter der Email-Adresse michael.kloecker@uni-koeln.de und Claudia Naß unter der Telefonnummer 02235/41475 und der Email-Adresse claudia.nass@web.de zur Verfügung.
    Unsere Presseinformationen finden Sie auch im World Wide Web unter http://www.uni-koeln.de/pi.


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    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Geschichte / Archäologie, Gesellschaft, Philosophie / Ethik, Religion
    regional
    Forschungsergebnisse
    Deutsch


     

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