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Wissenschaft
Wenn es um die Diagnose und Therapie von Krankheiten des Nervensystems geht, liegt der Schlüssel oft im Liquor, Nervenwasser genannt. Die Zellen in dieser Flüssigkeit könnten Informationen über pathologische Prozesse liefern, die im Nervensystem ablaufen. Um diese Hinweise zu deuten, muss man wissen, welche der Zellen im Nervenwasser aus dem Nervensystem stammen und welche nicht. Das ließ sich bisher kaum bestimmen. Neurowissenschaftler der Universität Münster haben nun einen Atlas erstellt, der das ändert. So lassen sich Krankheitsmechanismen besser verstehen und die Wirkung von Therapien auf ganz neue Art analysieren. Dieses Datenmaterial steht nun allen Forschern kostenfrei zur Verfügung.
Man stelle sich vor: Stau auf der A 45 – und um den zu umgehen, würde den Autofahrern empfohlen, eine Wanderkarte zu nutzen. Logischerweise wären die darin abgebildeten Routen nutzlos. Ein ähnliches Problem hatte auch die Neurowissenschaft lange: Zwar fanden die Forschenden im Gehirn und Nervenwasser von neurologischen Patienten Immunzellen, wollten sie jedoch wissen, woher diese stammen, mussten sie Atlanten nutzen, die auf Informationen zu Immunzellen aus dem Blut basieren. Die Folge: Die „Navigation“ im zentralen Nervensystem (ZNS) war immer wieder fehlerhaft. Wissenschaftlern der Westfälischen Wilhelms-Universität (WWU) Münster ist jetzt ein Durchbruch gelungen: Sie haben einen Atlas der Immunzellen des ZNS und insbesondere der Nervenflüssigkeit erstellt und ihre Erkenntnisse in der Fachpresse publiziert.
Die genaue Klassifizierung von Zellen und deren Ursprungsort ist für die Forschung sehr wichtig, um Krankheiten besser zu verstehen und ihren Verlauf genauer vorherzusagen. Der neue Atlas zeigt nicht nur, wo sich bestimmte Immunzelltypen befinden, sondern auch, von wo sie kommen. Um ihn zu „zeichnen“, nutzten die Forschenden der Arbeitsgruppe von Prof. Nicholas Schwab an der neurologischen Uniklinik Münster zum einen neueste Techniken, mit denen sich die Genexpression von einzelnen Zellen separat analysieren lässt. Des Weiteren verwendete das Team Algorithmen aus dem maschinellen Lernen (Deep Learning). Dieses System fütterten sie – wie bei Navigationssystemen üblich – mit großen Datensätzen, die an der Neurologie in Münster, aber auch andernorts, gesammelt wurden. Denn nur so konnte sichergestellt werden, dass sich die gewonnene Information auch verallgemeinern lässt.
Die Forschenden, allen voran Dr. Patrick Ostkamp, kombinierten Daten von Immunzellen aus Hirngewebe und der Nervenflüssigkeit, Liquor genannt. Zentraler Krankheitsmechanismus der Multiplen Sklerose (MS) ist, dass Immunzellen vom Blut ins Gehirn einwandern, und dort eine schädliche Immunreaktion auslösen. „Zellen machen nichts ohne Grund. Es ist also sehr wichtig zu wissen, ob eine Zelle gerade auf dem Weg vom Blut ins Gehirn ist – oder ob sie dort schon war und sich jetzt auf dem Weg zurück in die Peripherie befindet“, sagt Prof. Nicholas Schwab, der Koordinator der Studie.
Um das herauszufinden, untersuchte das Team das Nervenwasser von Patienten, die mit einem Medikament behandelt wurden, das die Einwanderung von Zellen ins Gehirn verhindert. Deren Liquor ist quasi eine Einbahnstraße: Alle Zellen, die sich darin fanden, mussten aus Richtung Gehirn gekommen sein, denn die Gegenrichtung war versperrt. Und in der Tat: Es fanden sich nicht nur weniger Zellen insgesamt im Liquor, sondern auch nur ganz spezifische Zelltypen. Eine Analyse von Gewebeproben stützt die Beobachtung: Diese Zellen ähneln viel mehr denen aus dem Gehirn – und weniger jenen aus dem Blut.
Doch in der Studie wurden nicht nur an MS Erkrankte, sondern auch Patientinnen und Patienten mit Alzheimer oder Parkinson analysiert. Jüngere Studien legen nahe, dass auch bei diesen Krankheiten das Immunsystem eine wichtige Rolle spielt. Die neuen Atlanten können damit auch außerhalb der MS-Forschung eingesetzt werden.
Um ihren Kolleginnen und Kollegen die Arbeit zu erleichtern, hat die Arbeitsgruppe eine Software programmiert und veröffentlicht, sodass nun die weltweite Forschergemeinde diese wertvollen Kartierungswerkzeuge frei nutzen kann. Langfristig, hoffen die münsterschen Neuroimmunologen, nützen diese neuen Erkenntnisse nicht nur der Forschung, sondern auch den Patientinnen und Patienten. Prof. Heinz Wiendl, Direktor der neurologischen Uniklinik, sagt dazu: „Dieses innovative Projekt hat bestätigt, was Neurologen schon seit über 100 Jahren denken: Die Nervenflüssigkeit ist zum Teil ein Spiegel dessen, was sich im Gehirn abspielt. Zu wissen, was genau sie anzeigt, wird uns in Zukunft enorm weiterhelfen.“ Im Unterschied zum Gehirn sei Nervenwasser nämlich zugänglich: „Mit Hilfe der Daten aus dem Liquor können wir die Wirkmechanismen von neurologischen Therapien auf ganz neue Art analysieren. Eine Analyse des Hirnwassers ist damit so etwas wie eine ‚Hirnbiopsie light‘. Die darin zu findenden Informationen sind unbezahlbar.“
Dr. Patrick Ostkamp
Klinik für Neurologie mit Institut für Translationale Neurologie
Universität Münster
E-Mail: Patrick.Ostkamp@ukmuenster.de
Ostkamp, P. et al. A single-cell analysis framework allows for characterization of CSF leukocytes and their tissue of origin in multiple sclerosis. Science Translational Medicine, 30 Nov 2022, Vol 14, Issue 673 https://doi.org/10.1126/scitranslmed.adc9778
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