idw – Informationsdienst Wissenschaft

Nachrichten, Termine, Experten

Grafik: idw-Logo
Grafik: idw-Logo

idw - Informationsdienst
Wissenschaft

Science Video Project
idw-Abo

idw-News App:

AppStore

Google Play Store



Instanz:
Teilen: 
16.05.2023 09:26

Übermäßige polizeiliche Gewaltanwendungen werden nur selten aufgearbeitet

Dr. Dirk Frank Public Relations und Kommunikation
Goethe-Universität Frankfurt am Main

    Ergebnisse des DFG-Forschungsprojekts „Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamt*innen“(KviAPol) erschienen.

    FRANKFURT. Erstmals können im Rahmen des Forschungsprojekts „Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamt*innen“ (KviAPol) umfassende wissenschaftliche Befunde zu übermäßigen Gewaltanwendungen durch Polizist*innen in Deutschland und zur strafrechtlichen Aufarbeitung solcher Geschehen vorgelegt werden. Dafür wurden im Rahmen einer Betroffenenbefragung über 3.300 Personen befragt und über 60 qualitative Interviews mit Polizist*innen, Richter*innen, Staatsanwälten, Rechtsanwält*innen sowie Opferberatungsstellen geführt. Das Projekt wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.

    Die Ergebnisse des Forschungsprojekts werden in dem Buch „Gewalt im Amt. Übermäßige polizeiliche Gewaltanwendung und ihre Aufarbeitung“ vorgestellt, das am 17.05.2023 im Campus Verlag erscheint. Verfasser*innen der Studie sind Tobias Singelnstein, Professor für Kriminologie und Strafrecht an der Goethe-Universität sowie die wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen des Projekts Laila Abdul-Rahman, Hannah Espín Grau und Luise Klaus.

    In welchen Situationen wurde der übermäßige Einsatz polizeilicher Gewalt vor allem berichtet? Besonders häufig beschrieben Befragte Einsätze bei Großveranstaltungen wie Demonstrationen und Fußballspiele. Aber auch Konfliktsituationen oder Personenkontrollen wurden oft genannt. Am häufigsten berichteten junge Männer, polizeiliche Gewalt erfahren zu haben. „Die Befragungsdaten sowie die Interviews zeigen außerdem, dass marginalisierte Personen in besonderer Weise von übermäßiger polizeilicher Gewalt betroffen sind“, erklärt Prof. Tobias Singelnstein.

    19 Prozent der Betroffenen berichteten von schweren physischen Verletzungen. Von Relevanz waren auch psychische Belastungen wie Wut und Angst vor der Polizei, das Meiden bestimmter Situationen oder Orte sowie der Verlust des Vertrauens in Polizei und Staat.

    Für eine Anwendung übermäßiger polizeilicher Gewalt können sowohl individuelle wie auch situative und organisationale Faktoren eine Rolle spielen. Mängel in der Kommunikation, Stress, Überforderung, aber auch diskriminierendes Verhalten von Polizeibeamt*innen können übermäßige polizeiliche Gewalt begünstigen. Ebenso gilt dies für Fragen von Betroffenen und Diskussionen sowie Respektlosigkeiten und Weigerungshaltungen in Bezug auf polizeiliche Maßnahmen.

    Wie und auf welcher Grundlage werden polizeiliche Gewaltanwendungen von den Beteiligten bewertet? Beteiligte Personen, Zeug*innen und Justizangehörige entwickeln anhand verschiedener Maßstäbe jeweils individuelle Perspektiven auf das Geschehen. Das Recht stellt dabei nur einen Bewertungsmaßstab neben anderen dar. Für die Polizei spielen neben Fragen der Rechtmäßigkeit einer Gewaltanwendung auch Aspekte der Legitimität und Praktikabilität eine Rolle, so das Ergebnis aus den Interviews mit Polizeibeamt*innen.

    Wie häufig wird rechtswidrige polizeiliche Gewalt zur Anzeige gebracht? Bei den Befragten war eine niedrige Anzeigebereitschaft festzustellen. „Ein Großteil der Verdachtsfälle rechtswidriger polizeilicher Gewaltanwendungen verbleibt dadurch im Dunkelfeld. Nur 14 Prozent der von uns befragten Betroffenen gab an, dass in ihrem Fall ein Strafverfahren stattgefunden habe“, stellt Tobias Singelnstein fest.

    Strafverfahren zu Verdachtsfällen rechtswidriger polizeilicher Gewalt werden außerdem zu über 90 Prozent von den Staatsanwaltschaften eingestellt, nur in etwa 2 Prozent der Fälle wird Anklage erhoben. Strukturelle Besonderheiten dieser Verfahren sind unter anderem, dass es für Polizeibeamt*innen herausfordernd sein kann, Kolleg*innen zu belasten. Für die zuständigen Staatsanwält*innen erweist sich angesichts der alltäglichen engen Zusammenarbeit mit der Polizei eine unvoreingenommene Herangehensweise an solche Verfahren als schwierig. Das kann auch zu Vorannahmen über die Betroffenen polizeilicher Gewalt führen, deren Glaubwürdigkeit infolgedessen geringer erscheint, so die Verfasser*innen der Studie. Diese Aspekte sind von besonderer Bedeutung, weil einschlägige Verfahren oft von einer schwierigen Beweislage gekennzeichnet sind: „Häufig steht die Aussage der Betroffenen denen der einsatzbeteiligten Polizeibeamt*innen gegenüber und es fehlt an weiteren Beweismitteln“, so Singelnstein.

    Als ein zentrales Ergebnis der Studie hält das Forschungsteam fest: „In den auf eine polizeiliche Gewaltanwendung folgenden Auseinandersetzungen um die Bewertung der Gewalt in Gesellschaft und Justiz erweist sich die polizeiliche Deutungsweise angesichts dieser Umstände als besonders durchsetzungsfähig und dokumentiert so die besondere Definitionsmacht der Polizei.“


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Prof. Dr. Tobias Singelnstein, Forschungsprojekt KviAPol, Professor für Kriminologie und Strafrecht, Goethe-Universität Frankfurt am Main. Tel. (069) 798 34346; kviapol@uni-frankfurt.de.


    Originalpublikation:

    Laila Abdul-Rahman, Hannah Espín Grau, Luise Klaus, Tobias Singelnstein:
    Gewalt im Amt. Übermäßige polizeiliche Gewaltanwendung und ihre Aufarbeitung. Frankfurt/New York: Campus Verlag 2023. [Open Access, 495 S., DOI: 10.12907/978-3-593-45438-2]


    Weitere Informationen:

    http://Eine Zusammenfassung der Ergebnisse ist unter https://kviapol.uni-frankfurt.de verfügbar.


    Bilder

    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, Wissenschaftler
    Gesellschaft, Recht
    überregional
    Forschungsergebnisse
    Deutsch


     

    Hilfe

    Die Suche / Erweiterte Suche im idw-Archiv
    Verknüpfungen

    Sie können Suchbegriffe mit und, oder und / oder nicht verknüpfen, z. B. Philo nicht logie.

    Klammern

    Verknüpfungen können Sie mit Klammern voneinander trennen, z. B. (Philo nicht logie) oder (Psycho und logie).

    Wortgruppen

    Zusammenhängende Worte werden als Wortgruppe gesucht, wenn Sie sie in Anführungsstriche setzen, z. B. „Bundesrepublik Deutschland“.

    Auswahlkriterien

    Die Erweiterte Suche können Sie auch nutzen, ohne Suchbegriffe einzugeben. Sie orientiert sich dann an den Kriterien, die Sie ausgewählt haben (z. B. nach dem Land oder dem Sachgebiet).

    Haben Sie in einer Kategorie kein Kriterium ausgewählt, wird die gesamte Kategorie durchsucht (z.B. alle Sachgebiete oder alle Länder).