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Wissenschaft
Der Gesichtsausdruck einer Person liefert eine Kerninformation für das Erkennen von Emotionen. Aber zu diesem Prozess gehört noch viel mehr. So lautet das Fazit der Arbeit von Dr. Leda Berio und Prof. Dr. Albert Newen vom Institut für Philosophie II der Ruhr-Universität Bochum. Das Team beschreibt die Emotionserkennung nicht als abgegrenzte Teilfähigkeit, sondern als Teil eines umfassenden Prozesses, mit dem Menschen sich einen Gesamteindruck einer Person machen. Dazu gehören auch physische oder kulturelle Merkmale sowie Hintergrundinformationen. Die Arbeit ist am 24. September 2024 in der Zeitschrift „Philosophy and Phenomenological Research” erschienen.
In den 1970er-Jahren wurde die Theorie entwickelt, dass das Gesicht das Fenster zu unseren Gefühlen darstellt. Der Forscher Paul Ekman beschrieb Basisemotionen wie Angst, Ärger, Ekel, Freude und Traurigkeit über typische Gesichtsausdrücke, die über alle Kulturen hinweg als gleichartig entdeckt wurden. „Allerdings wurde in den vergangenen Jahren zunehmend deutlich, dass in vielen Lebenssituationen ein typischer Gesichtsausdruck nicht die zentrale Information sein muss, die unsere Einschätzung von Gefühlen anderer leitet“, sagt Newen und gibt ein Beispiel: „Menschen schätzen einen typischen Gesichtsausdruck von Angst fast durchgängig als Ärger ein, wenn sie das Hintergrundwissen haben, dass die Person gerade von einem Kellner abgewiesen wurde, obwohl sie nachweislich einen Tisch reserviert hatte.“ In einer solchen Situation erwarten Menschen, dass die Person sich ärgert, und diese Erwartung bestimmt die Wahrnehmung der Emotion, auch wenn der Gesichtsausdruck typischerweise einer anderen Emotion zugeschrieben wird.
„Wir können Emotionen manchmal auch erkennen, ohne überhaupt das Gesicht zu sehen. Zum Beispiel die Angst einer Person, die von einem bissigen Hund attackiert wird und die wir nur in einer Haltung von Erstarrung und Erschrecken von hinten sehen“, veranschaulicht Berio.
Eine Emotion erkennen ist ein Teil des Gesamteindrucks von einer Person
Berio und Newen entwickeln die These, dass Emotionen erkennen ein Teilprozess der Fähigkeit ist, einen Gesamteindruck einer Person zu formen. Dafür stützen Menschen sich zum einen auf Merkmale des Gegenübers, zum Beispiel Merkmale des physischen Erscheinens wie Hautfarbe, Alter oder Geschlecht, kulturelle Merkmale wie Kleidung oder Attraktivität sowie situationale Merkmale wie Gesichtsausdruck, Gestik oder Körperhaltung.
Aufgrund solcher Merkmale können Menschen andere rasch einschätzen und verbinden unmittelbar einen sozialen Status oder sogar Persönlichkeitsmerkmale mit ihnen. Die Wahrnehmung der Gefühle wird von diesen Assoziationen stark bestimmt. „Wenn wir eine Person als Frau wahrnehmen und sie eine negative Emotion zeigt, schätzen wir die Emotion eher als Angst ein, bei einem Mann eher als Ärger“, gibt Berio ein Beispiel.
Hintergrundinformationen fließen in Einschätzung mit ein
Zusätzlich verfügen Menschen neben der Wahrnehmung von Merkmalen und ersten Assoziationen über reiche Personenbilder, die für einzelne Personen – Familienmitglieder, Freunde und Kolleg*innen – als Hintergrundinformation angelegt sind. „Wenn ein Familienmitglied unter Parkinson leidet, lernen wir den üblichen Gesichtsausdruck dieser Person, der eher ärgerlich aussieht, als neutralen Ausdruck einzuschätzen, weil wir wissen, dass der starre Gesichtsausdruck Teil der Erkrankung ist“, so Berio.
Zu den Hintergrundinformationen gehören auch Personenmodelle von typischen Berufsgruppen. „Wir haben stereotypische Annahmen von Ärzten, Studierenden, Handwerkern zu ihren sozialen Rollen und Aufgaben“, sagt Newen. „Wir nehmen Ärzte etwa allgemein als weniger emotional wahr, und daher ist die Gefühlseinschätzung verändert.“
Menschen machen also, um die Emotion einer anderen Person einzuschätzen, von dem großen Reichtum der Merkmale und des Hintergrundwissens Gebrauch. Nur in seltenen Fällen lesen sie die Emotion alleine vom Gesichtsausdruck einer Person ab. „Das hat auch Konsequenzen für das Emotionserkennen mit künstlicher Intelligenz (KI), die erst dann zuverlässig möglich sein wird, wenn sich die KI nicht nur auf den Gesichtsausdruck stützt, wie es die meisten Systeme gegenwärtig tun“, so Newen.
Förderung
Die Arbeiten fanden im Rahmen der vom Land NRW geförderten Profillinie „Interact! New forms of social interaction with intelligent systems“ statt.
Prof. Dr. Albert Newen
Institut für Philosophie II
Fakultät für Philosophie und Erziehungswissenschaft
Ruhr-Universität Bochum
Tel.: +49 234 32 22139
E-Mail: albert.newen@ruhr-uni-bochum.de
Dr. Leda Berio
Institut für Philosophie II
Fakultät für Philosophie und Erziehungswissenschaft
Ruhr-Universität Bochum
E-Mail: leda.berio@ruhr-uni-bochum.de
Leda Berio, Albert Newen: I Expect You to Be Happy, So I See You Smile: A Multidimensional Account of Emotion Attribution, in: Philosophy and Phenomenological Research, 2024, DOI: 10.1111/phpr.13113
Das Bochumer Forschungsteam: Albert Newen und Leda Berio
RUB, Kramer
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten
Philosophie / Ethik
überregional
Wissenschaftliche Publikationen
Deutsch
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