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22.01.2025 10:14

Religionssoziologe: Antisemitismus ist "hochgradig gegenwärtiges Problem"

Susann Sika Stabsstelle Universitätskommunikation / Medienredaktion
Universität Leipzig

    Antisemitismus ist nach Ansicht des Religionssoziologen Prof. Dr. Gert Pickel von der Universität Leipzig schon lange eine gesellschaftliche Normalität. Jüdinnen und Juden würden immer wieder zum "geeigneten Sündenbock oder Feindbild" gemacht. Anlässlich des Internationalen Gedenktags an die Opfer des Holocaust am 27. Januar spricht der stellvertretender Sprecher des Kompetenzzentrums für Rechtsextremismus und Demokratieforschung (KReDo) und Antisemitismusbeauftragte der Universität unter anderem auch über die Belastungen für jüdische Studierende und Mitarbeitende an deutschen Hochschulen wie der Universität Leipzig.

    Ist Antisemitismus Ihrer Einschätzung nach schon zur gesellschaftlichen Normalität geworden? Verschiebt sich da aktuell etwas?

    In der Antisemitismusforschung gehen wir davon aus, dass Antisemitismus schon lange Normalität und faktisch immer in der Gesellschaft präsent ist. Shulamit Volkov beschreibt ihn als wandelbaren kulturellen Code, der immer wieder in neuen Formen auftaucht. In Deutschland haben nicht wenige Antisemitismus zu lange auf den Nationalsozialismus und den Holocaust beschränkt und in gewisser Hinsicht historisiert. Aber es ist eben ein hochgradig gegenwärtiges Problem. Die aktuelle Entwicklung zeigt die Vielfalt der Gruppen, die für Antisemitismus anfällig sind. Sie werden aktuell sichtbar. Was nicht heißen soll, dass sie davor nicht schon da waren.

    Worin sehen Sie die Ursachen für diese Entwicklung?

    Jüd:innen erweisen sich immer wieder als geeigneter Sündenbock oder Feindbild. So tauchen Zuschreibungen der Macht verbunden mit antijudaistischen Kindermordvorwürfen auf. Antisemitismus ist also immer wieder aktualisierbar. Überhaupt spielen Verschwörungserzählungen im Antisemitismus eine große Rolle. Für die gegenwärtigen Debatten ist zweifelsohne der Krieg zwischen Israel und der Hamas ein wichtiger Faktor. Er hat eine belebende Wirkung auf antiisraelische Positionen, in denen sich nicht immer, aber immer wieder auch antisemitische Erzählungen mischen. Diese Auswirkungen von gewalttätigen Auseinandersetzungen in Israel wirken nicht zum ersten Mal, aber vielleicht am bislang stärksten mobilisierend für Antisemitismus in Deutschland.

    Wie sieht es diesbezüglich aktuell auf dem Campus der Universität Leipzig und anderer deutscher Hochschulen aus?

    Derzeit haben wir an fast allen deutschen Hochschulen pro-palästinensiche Proteste. Sie sind gegenüber dem letzten Semester etwas schwächer geworden, nehmen aber nun auch andere Wege gegenüber den noch davor genutzten Formen von Besetzungen von Hochschulräumen und Pro-Palästina-Camps. Dies ändert allerdings leider sehr wenig an der Belastung für jüdische Studierende und Mitarbeitende, auch in Leipzig. Sie machen Erfahrungen der Ausgrenzung, öffentlicher Bloßstellung, aber ihnen kommt auch die Möglichkeit des unbeschwerten Bewegens auf dem Campus und in der Stadt abhanden.

    Gibt es Zusammenhänge mit dem Nahostkrieg und dem beschlossenen Waffenstillstand?

    Bislang scheint sich dieser noch nicht auszuwirken, zu fragil ist auch die Situation in Israel und im Gaza-Streifen. Ich denke, erst wenn sich die Situation dauerhaft entspannt, dürfte auch in Deutschland die Motivation zur Positionierung – und damit auch antisemitische Äußerungen – nachlassen. Das bedeutet aber nicht, dass die Einstellungen verschwinden. Es wäre falsch zu denken, dann erledigt sich der Kampf gegen Antisemitismus. Vielmehr ist es notwendig, den Weg zu strukturellen Maßnahmen zu gehen, die dauerhaft Antisemitismus entgegenwirken. Da wären zum Beispiel die Verankerung von Antisemitismusbildung oder auch der Beschäftigung mit dem gegenwärtigen jüdischen Leben in Deutschland in verschiedenen Curricula und in der Lehrerausbildung wichtige Schritte. Hier gibt es auch bereits erste Initiativen. Nur eine langfristig angelegte und kontinuierliche Antisemitismusbildung kann wirklich Antisemitismus entgegenwirken.


    Wissenschaftliche Ansprechpartner:

    Prof. Dr. Gert Pickel
    Universitätsprofessor für Religions- und Kirchensoziologie
    Telefon: +49 341 97-35460
    E-Mail: pickel@rz.uni-leipzig.de


    Bilder

    Prof. Dr. Gert Pickel
    Prof. Dr. Gert Pickel
    Foto: Swen Reichhold


    Merkmale dieser Pressemitteilung:
    Journalisten, jedermann
    Gesellschaft, Politik, Religion
    überregional
    Forschungs- / Wissenstransfer
    Deutsch


     

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