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Wissenschaft
Neue Methode ermöglicht die experimentelle Bestimmung von Teilladungen von Molekülen
Einem internationalen Forschungsteam unter der Leitung der Universität Wien ist es gelungen, eine neue Methode zu entwickeln, mit der sich Partialladungen in Molekülen direkt messen lassen. Die in Nature veröffentlichten Ergebnisse eröffnen neue Einblicke in diese molekulare "Sprache" und bieten Potential für Anwendungen in der Arzneimittelentwicklung und Materialwissenschaft.
Elektrostatische Kräfte – anziehende oder abstoßende Wechselwirkungen zwischen Atomen oder Molekülen – stehen im Zentrum aller chemischen und biologischen Prozesse: Sie bestimmen, wie Moleküle sich zusammenfügen, ausrichten und aufeinander reagieren. In der Chemie werden diese Kräfte durch Partialladungen beschrieben: minimale Ungleichgewichte in der Verteilung von Elektronen innerhalb eines Moleküls. Diese feinen Verschiebungen der Ladung entscheiden, wie Moleküle miteinander und mit ihrer Umgebung interagieren, sind also quasi ihre "Sprache". Sie sind der Schlüssel zum Verständnis chemischer Reaktivität, biologischer Funktionen und des Verhaltens von Materialien. In der Medizin beeinflussen Partialladungen beispielsweise, wie Medikamente aufgenommen, verteilt und verstoffwechselt werden, und damit auch deren therapeutische Wirkung und mögliche Nebenwirkungen. Trotz ihrer großen Bedeutung waren Partialladungen jedoch bislang ein theoretisches Konzept: Es gab keine Möglichkeit, sie direkt zu messen.
Durchbruch bei der Messung molekularer Ladungen
Ein Forschungsteam um Tim Grüne, Leiter der Core Facility für Kristallstrukturanalyse, und Christian Schröder vom Institut für Computergestützte Biologische Chemie an der Universität Wien hat nun eine Methode entwickelt, mit der sich Partialladungen experimentell bestimmen lassen. "Wir haben Elektronenbeugung eingesetzt", erklärt Grüne. "Dabei wird ein feiner Elektronenstrahl auf einen winzigen Kristall gerichtet. Da Elektronen geladen sind, reagieren sie empfindlich auf das elektrostatische Potenzial im Kristall und somit auf die Partialladungen der Atome. Die daraus resultierenden geringfügigen Ablenkungen des Strahls wurden mit einer neuen Kamera aufgezeichnet, die am Paul Scherrer Institut in der Schweiz entwickelt wurde."
Die Beugungsdaten wurden mit einer neuen Analysemethode namens ionic scattering factor modeling (iSFAC) kombiniert. Dabei wird jedes Atom gleichzeitig als neutrales und als geladenes Teilchen modelliert. Durch den Vergleich dieses Modells mit den experimentellen Daten konnten die Forscher die Partialladung jedes Atoms quantitativ bestimmen.
"Bisher wurden Partialladungen mit rechnerischen Methoden geschätzt", sagt Christian Schröder. "Einige davon passen atomare Ladungen an, um das molekulare elektrostatische Potenzial zu reproduzieren. Dieses Verfahren nennt man electrostatic potential-derived charges (ESP charges). Andere Verfahren teilen die Elektronendichte auf die Atome auf. Obwohl diese Ansätze in der Molekülmodellierung weit verbreitet sind, können sie je nach Algorithmus unterschiedliche Werte liefern. Unsere experimentelle Technik stellt nun eine direkte Verbindung her und kann helfen, theoretische Modelle zu validieren und weiterzuentwickeln."
Breites Anwendungsspektrum
Um die breite Anwendbarkeit ihrer Methode zu demonstrieren, analysierten die Forscher eine Vielzahl kristalliner Verbindungen, darunter den industriellen Katalysator ZSM-5, die Aminosäuren Tyrosin und Histidin, Weinsäure aus österreichischem Wein sowie das weit verbreitete Antibiotikum Ciprofloxacin. Für Ciprofloxacin, das auf der Liste der unentbehrlichen Arzneimittel der Weltgesundheitsorganisation (WHO) steht und üblicherweise als Hydrochloridsalz verabreicht wird, ergab die Analyse, dass das Chloridion (Cl⁻) nur etwa 40 Prozent der gesamten negativen Ladung trägt. Dies verdeutlicht, wie stark die Umgebung eines Moleküls dessen lokale Ladungsverteilung beeinflussen kann.
Neue Impulse für Wirkstoff- und Materialdesign
Die Core Facility für Kristallstrukturanalyse an der Universität Wien hat in den vergangenen Jahren wesentlich zur Weiterentwicklung der Elektronenkristallographie beigetragen. Mit dem aktuellen Durchbruch geht die Methode über die reine Bestimmung von Atompositionen hinaus und erlaubt auch die experimentelle Erfassung elektronischer Eigenschaften. Die Möglichkeit, Partialladungen zu messen, eröffnet neue Perspektiven für die Entwicklung zielgerichteter Medikamente mit geringeren Nebenwirkungen sowie für die Herstellung funktionaler Materialien mit präzise abgestimmten Eigenschaften.
Privatdoz. Dipl.-Phys. Dr. Tim Grüne
Leiter der Core Facility für Kristallstrukturanalyse
Fakultät für Chemie
Universität Wien
1090 Wien, Währinger Straße 42
+43-1-4277-70202
tim.gruene@univie.ac.at
https://ccsa.univie.ac.at
Univ.-Prof. Dipl.-Chem. Dr. Christian Schröder
Stellv. Leiter Institut für Computergestützte Biologische Chemie
Fakultät für Chemie
Universität Wien
1090 Wien, Währinger Straße 42
+43-1-4277-52711
christian.schroeder@univie.ac.at
Soheil Mahmoudi, Tim Gruene, Christian Schröder, Khalil D. Ferjaoui, Erik Fröjdh, Aldo Mozzanica, Kiyofumi Takaba, Anatoliy Volkov, Julian Maisriml, Vladimir Paunović, Jeroen A. van Bokhoven, Bernhard, K. Keppler. Experimental determination of partial charges with electron diffraction. In Nature.
DOI: 10.1038/s41586-025-09405-0
https://www.nature.com/articles/s41586-025-09405-0
https://www.univie.ac.at/aktuelles/press-room/pressemeldungen/detail/wie-molekue...
Die Elektronenkristallografie ermöglicht Einblicke in die atomare Anordnung chemischer Verbindungen.
Copyright: Gruene/Schroeder
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Wissenschaftler
Biologie, Chemie, Medizin
überregional
Forschungs- / Wissenstransfer, Forschungsergebnisse
Deutsch
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