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Wissenschaft
Die historische Aufarbeitung an der Universität Leipzig schreitet voran: Heute, am 1. Oktober 2025, wurden erstmalig in Deutschland drei Gebeine von Roma beigesetzt, die vor rund 150 Jahren für rassistische Forschungszwecke gesammelt wurden. Die feierliche Gedenkveranstaltung initiierte und geleitete der Romano Sumnal – Verband der Roma und Sinti in Sachsen e.V. mit Unterstützung durch das Institut für Anatomie der Universität Leipzig. Die würdevolle Beisetzung fand auf dem Südfriedhof in Leipzig statt.
Das Institut für Anatomie beherbergt eine Schädelsammlung, deren Ursprung im ausgehenden 19. Jahrhundert liegt und damals von verschiedenen Naturwissenschaftlern zusammengestellt wurde. Von den anfänglich 1.500 Schädeln befinden sich aufgrund der Zerstörungen und Verluste durch die beiden Weltkriege noch rund 1.200 Schädel im Institut. Viele stammen aus kolonialen Kontexten. Darüber hinaus ergab eine Recherche, dass sich unter ihnen drei Gebeine von Roma befanden.
„Die Beschaffung der Gebeine, ihre Weitergabe und ihre Ausnutzung, insbesondere für ideologisch getriebene und verfälschte Forschung, kann nicht als unbedacht oder naiv abgetan werden“, sagt Prof. Dr. Jens-Karl Eilers in Vertretung des Rektorats der Universität Leipzig. Der Prorektor weist in seiner Rede auf die positiven Entwicklungen hin: „Ein ganz besonderes Zeichen, dass sich Dinge zum Besseren wenden, ist die Arbeit am Institut für Anatomie der Medizinischen Fakultät der Universität Leipzig.“ Prof. Dr. Martin Gericke, der die Provenienzforschung am Institut für Anatomie leitet, ergänzt: „Es ist für uns von großer Bedeutung, die Gebeine an ihre Herkunftsgesellschaften zurückzugeben. Im besten Falle kann es uns gelingen, im Hier und Jetzt etwas an dem Leid zu lindern, das vor langer Zeit begangen wurde.“
Der Naturwissenschaftler Emil Schmidt (1804-1876) hatte die Schädel zu seinen Lebzeiten vom niederländischen Mediziner Jan van der Hoeven (1801-1868) gekauft. Wie sie jedoch zu van der Hoevens gelangten, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Sicher ist jedoch, dass die Gebeine über Generationen hinweg in verschiedenen Instituten aufbewahrt wurden. Im historischen Katalog von Emil Schmidt sind die drei Schädel in einem Kapitel unter dem „Z“-Wort aufgeführt. Neben Abmessungen und Beschreibungen anatomischer Merkmale ist dort zu lesen, dass es sich bei den Verstorbenen um drei erwachsene Männer handelt: Bei der ersten Person ist Großwardein, das heutige Oradea, Rumänien, als Herkunft angegeben. Die Gebeine der zweiten circa 75 Jahre alten Person wurden im Jahr 1865 in einem Krankenhaus in Bukarest, Rumänien, entwendet. Über die Herkunft der dritten Person ist nur bekannt, dass ihre Gebeine durch die Plünderung eines Roma-Grabes angeeignet wurden.
Mit diesen wenigen vorhandenen Informationen war eine Ahnenforschung unmöglich. Schlussendlich verständigten sich die Wissenschaftler:innen mit dem Verband der Roma und Sinti darauf, die Gebeine in Leipzig zu bestatten. An die Verstorbenen erinnert jetzt ein künstlerisch gestalteter Gedenkstein auf dem Areal der denkmalgeschützten Grabstätte der Leipziger Sinti-Familie Franz. „Die Gedenkfeier und Beisetzung sind ein wichtiger Teil unserer Bestrebungen, den Verstorbenen eine angemessene letzte Ruhestätte zu ermöglichen“, betont Prof. Dr. Martin Gericke.
„Diese Beisetzung ist ein historischer Moment“, erklärt Gjulner Sejdi, Vorsitzender von Romano Sumnal - Roma und Sinti in Sachsen. „Zum ersten Mal werden in Deutschland Gebeine von Roma, die in wissenschaftlichen Sammlungen missbraucht wurden, öffentlich bestattet. Damit übernimmt Leipzig Verantwortung und macht einen oft übersehenen Teil der Geschichte sichtbar.“
Zugleich betonen die Wissenschaftler:innen und der Verband die Notwendigkeit, die Provenienzforschung weiterzuführen – auch wenn diese sehr aufwändig ist und nicht zwangsläufig zum Ziel führt. „Nur durch die Aufarbeitung der Herkunftsgeschichten kann Verantwortung übernommen und historisches Unrecht aufgearbeitet werden“, sagt Gericke.
An der Gedenkveranstaltung nahmen neben den Vertreter:innen der Universität Leipzig und des Romano Sumnal auch der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma, der Beauftragte der Bundesregierung gegen Antiziganismus und für das Leben der Sinti und Roma, die Botschafterin von Rumänien sowie Vertretungen der Stadt Leipzig und sächsischen Staatsregierung teil.
Hintergrundinformation:
Das langfristige Ziel der Provenienzforschung am Institut für Anatomie der Universität Leipzig ist, die Schädelsammlung vollständig aufzulösen. Dafür startete im Jahr 2024 eine umfangreiche Recherche der südamerikanischen und afrikanischen Schädel der Sammlung, welche letztendlich zur Repatriierung - durch das Auffinden von Ansprechpersonen in den einzelnen Herkunftsländern - führen soll. Das Projekt wird vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste für zwei Jahre gefördert. Erst im Juni 2025 wurden 19 menschliche Überreste der Sammlung in New Orleans, USA, übergeben
Prof. Dr. Martin Gericke
Direktor Lehrstuhl II
Institut für Anatomie
Medizinische Fakultät, Universität Leipzig
Telefon: 49-341-97-22 055
E-Mail: martin.gericke@medizin.uni-leipzig.de
http://www.uni-leipzig.de/newsdetail/artikel/zeremonielle-bestattung-von-19-totenschaedeln-in-new-orleans-usa-2025-06-06
https://magazin.uni-leipzig.de/das-leipziger-universitaetsmagazin/artikel/aufarb...
Der Trauerzug mit den symbolischen Särgen auf dem Weg zur Ruhestätte. V.l.n.r.: Prof. Martin Gericke ...
Quelle: Swen Reichhold
Copyright: Universität Leipzig
Musiker der Roma und Sinti Gemeinde begleiteten die Gedenk- und Beisetzungsfeier mit eigens dafür ko ...
Quelle: Swen Reichhold
Copyright: Universität Leipzig
Merkmale dieser Pressemitteilung:
Journalisten, Wissenschaftler
Gesellschaft, Kulturwissenschaften, Medizin
überregional
Forschungsergebnisse
Deutsch
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